Der Vertrag hat den Diskurs ersetzt. John Rawls setzt als einer der einflußreichsten Gesellschaftstheoretiker in seiner „theory of justice“ auf eine Bedingung der offenen Gesellschaft: die Gleichgestelltheit jedermanns. Jürgen Habermas zieht aus dieser grundsätzlichen Gleichheit seine Schlüsse, die seiner Meinung den freien Diskurs ermöglichen aus dem Demokratie zehrt. So richtig hat keiner von beiden mit der zunehmenden Radikalität des Neoliberalismus seit 1974 gerechnet.
Vernunft kämpft gegen Rationalisierung, eine Verwissenschaftlichung, die für sich Vernunft in Anspruch nimmt und verkehrt. Rationalität ist keine Vernunft, sondern ein Werkzeug der methodischen Logik. Sie kann gefährlich sein, wenn die Inhalte mit denen sie operiert nicht den Tatsachen entsprechen oder Teile der Realität ausblenden.
Ökonomie in Form des modernen Neoliberalismus hat ihre Berechtigung nach und nach aus einer wissenschaftlichen Fundierung gezogen und was allenfalls eine Theorie war (Adam Smith, etc.) wurde nach und nach zum Glauben. Als Daniel Kahnemann in den späten 1990ern den rationalen homo oeconomicus der Vernunft entledigte und ihn als irrationales, emotionales und verlustängstiges Wesen hinstellte, hätte eigentlich Schluß sein müssen mit dem Irrsinn des Wachstums. Und vielleicht hat gerade eine einsetzende Irrationalität („Angst“) des Systems zu seiner energischen Verteidungung geführt. Mehr Angebot, mehr Terror, mehr Ablenkung, mehr Heilsversprechen.
Die reine Werbung und das Heilsversprechen des Konsums waren nicht mehr genug, sondern die Position des Konsumenten mußte verändert werden. Von nun an wurde den Menschen vermittelt, sie müssen in Angst leben; Angst vor Terror, Angst vor Verfettung, Angst vor einem Leben ohne Partner, Angst vor dem Ungenügend-Sein. Von nun an lebte der Mensch in einer Welt in der er angeblich nicht mehr leben konnte ohne Austerität. Die Lösung aller uns eingeredeter Probleme liegt in der Betätigung unseres Glaubens durch Arbeit, Konsum und Apathie gegenüber weiterer Konflikte, die um Ressourcen geführt werden.
Neoliberalismus höhlte nach und nach Begriffe aus (Fortschritt, Wohlstand, Glück etc.) und zerriß damit die Vernetzungen in Gesellschaft und Geist, die gesamtheitlich Sinn erzeugen. Rawls und Habermas gehen von einem Primat der Gleichheit aus, die eine politisch-vernünftige ist. Ein mit gleichen Rechten und Chancen ausgestatteter Mensch, der im Diskurs mit anderen immer zu einem tragbaren, ausgehandelten Ergebnis kommt — ganz gleich, mit welchen Ansichten die Parteien herangehen. Doch dieser Diskurs ist nicht mehr möglich, weil die Voraussetzungen dafür nicht mehr gegeben sind.
Der Mensch ist zum hypernormalisierten Individuum geworden, einem Menschen im Modus des Wettbewerbers, der nicht einfach gewinnen will, sondern gewinnen muß. Leider sind die Startbedingungen nicht die gleichen. Ökonomische Ungleichheit hat zu psychischer, sozialen und rechtlicher Ungleichheit geführt. Wir reden schon lange wieder von Schichten und Klassen. Psychisch gibt es den Streß überall: Von Verlustängsten sind Milliardäre wie Prekariat heimgesucht. Sozial mangelt es an Teilhabe. Vom schlichten Restaurant über Kinobesuche oder Tanzveranstaltungen, Bibliothek und Reisen findet sich der gemeinsame Nenner für die Möglichkeit dazu in Geld. Materialismus hat die Bedeutungen der Begriffe von Freiheit und Fortschritt derart verflacht, daß alle Realität nur noch im gehört. Wie kann Recht bestehen, wenn sein Primat Gleichheit bedeutet und Gleichheit lediglich aus materieller Potenz erwächst? Der arme Poet, den Carl Spitzweg 1839 in Öl gemalt hat, ist heute jeder, dessen Potenzial nicht zu Profitmaximierung taugt. Zu sehr ist Ökonomie als Stabilisator in die politische Agenda eingedrungen als daß es Demokraten geben könnte, die mit gleichen Mitteln und Möglichkeiten streiten.
Man muß nur die US-amerikanische Politiklandschaft betrachten, wo es inzwischen 5 Millionen US Dollar kostet, um von kommunaler zu regionaler Ebene überhaupt zu Bekanntheit zu gelangen. Anders: Die Bedingung zur Möglichkeit überhaupt gewählt werden zu können ist es, wirtschaftlich aktiv zu werden, Spenden zu sammeln oder das Geld schon zu besitzen. Im letzteren Fall wird klar, wie man mittels Kapital zur Eigenmarke und zum Präsidenten werden kann, ganz ohne die Fähigkeiten, die das Amt verlangt.
Die Austeritätspolitik, also die Sparmaßnamen der Staaten, sind Konsequenz der in den 1970ern eingetretenen Ablösung des ökonomischen Systems. Jede Kommune sieht sich Zinsbelastungen ausgesetzt, die es zu bedienen gilt. Für viele kommunale Projekte wird Geld eingesetzt, das oftmals aus privater Hand fließt. Und das zu einem hohen Preis. Verkürzt gesagt, ist die moderne Austeritätspolitik Konsequenz der Abhängigkeit von einer Privatökonomie. In einer finanzorientierten materialistischen Gesellschaft löst sich ihr Machtpotential – also das des Einzelnen – in der Abhängigkeit von Kapital auf. Weniger hochtrabend formuliert, sind wir, also die Bürger, praktisch handlungsunfähig geworden, weil die Mittel zur Daseinsvorsorge derart umverteilt sind, dass von Gleichheit nicht mehr zu sprechen ist.