Natürlich haben wir es satt. Wir haben die Schnauze gestrichen voll. Die Angst vor einer gefährlichen Virusinfektion ist einem Gefühl von Ohnmacht gewichen. Für einen Demokraten, also jemanden, der sich als selbstbestimmt und frei begreift, ist das fast die ultimative Qual. Doch es geht noch schlimmer: Niemand weiß, wie lange noch. Sie kennen das vielleicht vom Zahnarzt; wenn sich die Bange einstellt, dass der Bohrer noch vielleicht noch einmal kreischen wird. Und man hat den Mund zwar sperrangelweit offen, doch der Arzt versteht unser Gemurmel nicht.
Es wird irgendwann vorbei sein. Ganz bestimmt. Man wendet sich an die Politiker, die an die Experten verweisen. Wissenschaftler haben aber die Angewohnheit, wenig diplomatisch zu sein. Von ihnen ist keine wertende Aussage über die Zukunft der Nation zu erwarten. Wissenschaften, besonders Medizin und Virologie, sind empirische Geschäfte. Ihre Antworten sind a posteriori – nach dem Fakt. Daher gibt es für uns nichts als die ewige Wiederkehr des Gleichen: Inzidenzzahlen, Stimmungsbilder, Hoffnungsschimmer und Verunsicherung. Die Medien agieren dabei offenbar intakt, denn sie tragen die Zweifel der Regierungen und der Wissenschaft weiter.
Was kann man aber von der Politik erwarten? Persönliche Bereicherung steht auf der Skala hilfreicher Politik ganz unten. Darauf folgt die Wiedergabe von Fakten, Zahlen in Pressekonferenzen. Der Bürger wünscht sich allerdings konkrete Zusicherungen. Die sind allerdings den Populisten vorbehalten, welchen im Moment jegliche Munition fehlt. Das liegt in der Natur der Sache. Denn die Pandemie ist ein Problem, dass sich nicht mit politischen Zusicherungen lösen läßt. Für die Regierung gilt das genauso. Sie hat allerdings das zusätzliche Problem, den Lauf der Dinge nicht mit den herkömmlichen Mitteln lösen zu können. Diese gab bisher immer der Markt her. Die Politik ist Teil des Marktes geworden und sie muß sich bei der Lieferung von Masken, Schnelltests und Impfstoffen hinten anstellen. Sie ist den Mechanismen der Verträge unterworfen.
Heute gilt die Vertragsfreiheit als der Kern freiheitlicher Ordnung. Ausgehend von der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, nach welcher die Individuen in der Demokratie frei ihre Recht untereinander aushandeln, ist die moderne Demokratie in einen Zustand geraten, in welcher alles zur Disposition steht. Alles ist verhandelbar. Grenzen der Vertragsfreiheit liegen dort, wo gegen Sitten, Recht und Billigkeit verstoßen wird. Es scheint, als hätten wir heute kaum noch einen Begriff davon, was das bedeutet. Der Staat hat sich inzwischen dermaßen dereguliert, dass die Gesetze zur Herstellung von Gleichheit und Fairness zu einem wilden Dschungel gewachsen sind.
Die Idee vom Gesellschaftsvertrag setzt voraus, dass sich gleichberechtigte Parteien gegenüberstehen. Die Versuche von John Rawls und Jürgen Habermas, die Vernunft in das 21. Jahrhundert hinüber zu retten, haben keinen Erfolg gezeigt. Wer Miet-, Energie- oder Telekommunkationsverträge abschließt, schreibt keine eigenen Vertragsbedingungen. Er nimmt, was er bekommt. Der Staat tut es seinen Bürgern gleich.
Die Juristen sprechen von essentialia negotii – den essentiellen Vertragsbedingungen. Es scheint, als stehe auf der einen Seite immer das Gut und auf der anderen das Geld. Die Macht der Vertragspartner liegt dabei in diesen zwei Faktoren. Deutschland hat einen vergleichsweise guten Stand, was das Geld betrifft. Der tüchtige Deutsche ist kreditwürdig. Der Preis ist die politische Pflege der Exportindustrie, zu denen Automobile und Waffen gehören. Die deutsche Politik stößt allerdings bei der Pandemie an ihre Grenzen. Das Virus bleibt von Geld unbeeindruckt. Und selbst wenn Deutschland Geld in die Hand nimmt, um Impfstoffe etc. sicherzustellen, löst sich damit das globale Problem nicht. Die Welt muß immun werden.
Die deutsche Binnenpolitik gibt derweil ein trauriges Schauspiel ab. Forderungen und Kritik, Innenministerkonferenz und Infektionsschutzgesetz, Pressekonferenzen und lokale Alleingänge. Wir kennen das aus den letzten Monaten zur Genüge. Manche meinen, der Föderalismus stehe uns im Weg und implizieren, dass ein (An)Führer womöglich die Dinge ganz anders geregelt hätte. Eine Hauptursache politischer Unfähigkeit liegt in der Regelungsdichte deutscher Gesetze. Die Natur des deutschen Rechts als kodifizierte Rechtssätze bringt es mit sich, dass meterweise Gesetze und Verordnungen entstehen. Besonders seit der Regentschaft Gerhard Schröders ist die Regelungsdichte in Deutschland auf ein Niveau angestiegen, dass die Bürokratie zum großen Blockierer macht. Deutschland lag 2019 auf Rang 25 von 51 OECD-Ländern. … gibt ein Beispiel: “Wenn bspw. allein der Zeitaufwand zur Erfüllung von Anforderungen hoheitlicher Vorschriften um zehn Prozent sinken würde, wäre in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt um rund 9,1 Milliarden Euro höher.”
Den Lobbyisten kommt dieser Umstand gelegen. Auch wenn das Bundesministerium für Wirtschaft meint sie “bremst die Wirtschaft.” Für die etablierte Wirtschaft ist ein durch Bürokratie geschwächter Staat ein Traum. Denn ein langsamer Staat kann dennoch schnell Verträge schließen.
Das Augenmerk liegt dabei auf der Föderalismusfrage. Es scheint paradox zu sein, wenn man Kommunen Selbstverwaltungsrecht zugesteht, den Ländern ihre eigene Legislative und dennoch bundesweite Regelungen sucht. Die deutsche Politik ist unfähig, sich auf einfache Rahmengesetzgebungen zu einigen, wie beispielsweise ein bundesweites System von Pandemiestufen. Neuseeland hat beispielsweise vier Stufen, die national gültig sind und denen klare Anweisungen folgen. Pandemie-Hotspots können so territorial festlegen, welche Stufe für sie gilt. Der Bürger weiß, wo gerade welche Regelung gilt, weil die Kommunikation trotzdem zentral bleibt.