Wer gegen die Demokratie arbeitet, arbeitet prinzipiell gegen seine eigene Freiheit. Und jeder hat das Recht zum Widerstand, wenn die demokratischen Prinzipien in Gefahr geraten. Offenbar fühlen sich all jene, die gegen heutige Demokratien angehen, gerade in ihrer Freiheit beschnitten. Tatsächlich sehen sich einige als Widerständler, welche Freiheit verteidigen. Das gilt auch für Protestwähler. Sie sehen mitunter keine Möglichkeit als all jene abzustrafen, die ihre Meinung nicht wahrnehmen. Dabei geht es weniger um Meinung als um die eigenen Lebensumstände und -ansichten, die von Politikern nicht als substantiell wahrgenommen werden. Stellvertretend wird also anderen das Mandat gegeben, „den da oben“ mal richtig in den Arsch zu treten. Auch wenn es schwer vorstellbar ist, daß die neuen Parteien nicht letztlich ebenso ignorant gegenüber dem kleinen Mann sein werden: Es zählt der Protest.
Einerseits verständlich, wenn man, wie ich, in einer Gegend aufwächst, die Geburtsort des Nationalsozialismus war und in der Wende stark gebeutelt wurde. Andererseits Ausdruck politischer Unmündigkeit, die im Grunde selbstverschuldet ist. Und für viele Protestwähler würde ich meine Hand in’s Feuer legen mit der Behauptung, daß sie nicht antidemokratisch fühlen. Sie sehen die Regierung antidemokratisch an und sehen sich tatsächlich als Verteidiger ihrer Freiheit. Das mindert die Gefahr für die freie und offene Gesellschaft aber nicht. Im Gegenteil: Es zeigt die Problematik offener Gesellschaften, in denen Gruppen sich von der Freiheit aller anderen bedroht fühlen. Was paradox wirkt, ist eine Frage psychischer Normalisierung, ein Problem staatlichen Gegendrucks gegen freie aber immer gewalttätige Äußerungen und vor allem danach, aus welcher Substanz Freiheit gemacht ist und wie ob freie Individuen in einer Gemeinschaft halten kann. Es ist seit Sokrates kein Novum, daß Freiheit mannigfaltige Definitionen hat. Und als aufgeklärte Menschen wissen wir, daß es keine substantiellen (positiven) Definitionen geben kann. Dennoch hat jeder Mensch eine eigene Vorstellung davon, die er als richtig, gut und wahr ansehen muß. Das ist eine Frage der geistigen Integrität.
Diese geistige Substanz in unseren Köpfen, die wir als Wahrheit ansehen, hat eine zähe Dynamik. In unseren Gehirnen sind Weltbilder generiert, die komplex auf weitere Begriffe referenzieren. Jede Wortbedeutung assoziiert Ähnliches und Gegensätzliches. Jede Erfahrung ist darauf aus, verbundene Begriffe in unseren Köpfen neu zu definieren. Das macht Wahrheit als Substanz kompliziert: alle Begriffe als unsere Vorstellung von der Welt müssen neu in Beziehung gesetzt werden und das erfordert Anstrengung, die manche Lebensumstände schwer zulässt. Gewissermaßen wehren wir uns dagegen, weil das Einbrechen solcher neuen Erfahrung die Neudefinition unserer Weltbilder erfordert und ihr Zweifel intrinsisch ist. Der offene Mensch ist gezwungen mit Dissonanz zu leben, die er durch permanente Justierung seiner Einstellung zu mindern versucht. Das ist der demokratische Prozess.
Auch wenn das Konservative dagegen Weltbilder bewahren — oder wieder aufbauen — will, bleiben Begriffe und Weltbilder keine unverrückbaren Dogmen; sie sind ein sich — auch unbewußt — vollziehendes plastisches Phänomen unseres Gehirns. In ihm wird sekündlich die Welt abgetastet, gefiltert und als Impuls aufgenommen. Ihre Beschaffenheit beeinflusst unsere Urteile und Handlungen. Die Aufklärung als Prozess drängt sich uns durch Veranlagung förmlich auf. Deswegen hat konservatives Dogma zwar eine beruhigende Wirkung, aber es besitzt auch Zeitlichkeit, bzw. Fallibilität: Es funktioniert nur so lange.