Im Folgenden ein Exposé für einen Text, an dem ich gerade schreibe. Diese Einführung ist ein Versuch von vielen, das Thema zu umreißen.
Die Idee der offenen Gesellschaft nach Karl Popper hat sich in Ansätzen verwirklicht. Doch sie steht auf Messers Schneide. Sie ist eine liberale Idee, die vergewaltigt wird. Freiheit in offenen Gesellschaften bedeutet die Entwertung des Politischen. Staat und Gesellschaft besitzen keine substantiellen Werte, welche sie Personen eintrichtern. Die deutsche Verfassung, auf die sich heutzutage an allen Ecken und Enden berufen wird, ist ein hervorragendes Beispiel für den Versuch einer Person keine Rechte zu geben, sondern diese Rechte als gegeben hinzustellen. Die Grundrechte ziehen eine Grenze, die von Staat und Mitmenschen nicht überschritten werden darf. Sie garantieren der Person das Recht zur Abwehr von Eingriffen in ihre Freiheit.
Darin steckt ein Problem, welches sich gegenwärtig zeigt: Es ist nicht einfach, sich politisch aus der Substanz persönlicher Wertvorstellungen rauszuhalten. Gegen jeden, der gegen die Demokratie Stellung bezieht, hat jeder ein Recht zur Verteidigung. Jahrzehntelang war dieses Recht kaum in Anspruch genommen worden, bis Flüchtlinge und Covid-19 kamen. Seitdem äußert sich der Streit um persönliche Wertvorstellungen allerorts. Er stellt inzwischen die Demokratie selbst in Frage. Weil in den letzten Jahrzehnten auf einen Feind derselben nicht geachtet wurde. Eine Idealisierung des kapitalistischen Systems hat eingesetzt, das sich Neoliberalismus nennt. Er macht sich die persönliche Freiheit zunutze, weil er scheinbar zurücktritt und „jedem das Seine” überlässt.
Doch wie jede Ideologie typisiert er die Person. Ihre individuelle Wertvorstellung mag weithin frei sein, doch sie darf nicht aus dem Rahmen des ökonomisch Erfüllbaren treten. Hier nahm das Ökonomische den Platz des Politischen ein, indem er das Konzept des freien Willens und seiner Verantwortung in den Schuldvertrag steckte. Die staatstheoretischen Ideen vom Gesellschaftsvertrag hat die Ökonomie durch ein Geflecht der Schuld verwirklicht. Individuen schulden sich untereinander Leistungen, deren Verwirklichung im eigenen Interesse liegt. Der Inhalt der einzelnen Vertragsabreden bleibt individueller Wert, die Verpflichtung als Schuld wird zum Stabilisator der Gesellschaft. Vorausgesetzt, man hat die Mittel.
Nach vier Jahrzehnten ökonomischer Höhenflüge werden einerseits die Produkte immer absurder und andererseits wird die Person immer weiter normalisiert. Letzteres ist eine bedenkliche Entwürdigung, welcher eine Person paradoxerweise frei-willentlich zustimmt. Die Verquickung zwischen Politischen und Ökonomischen liegt in der Annahme eines rationalen freien Willens, der die Verantwortung für Schuld erst ermöglicht. Nachdem der kritische Rationalismus der Frankfurter Schule endlich in den 1990ern das Märchen vom homo oeconomicus aufdeckte, hegt inzwischen die Neurowissenschaft erhebliche Zweifel am freien Willen wie wir ihn verstehen. An dieser Auffassung hängt die Stabilität von Gesellschaften, die sich durch Geflechte individueller Schuld stabilisieren.
Unabhängig davon, wie man freien Willen auffasst, nehmen die Phänomene weltweit zu, dass Freiheit abgelehnt wird. Die neoliberale Idee sorgt nicht nur für die Zerstörung der Umwelt durch die Notwendigkeit, des Menschen Himmelreich auf Erden zu holen. Vielmehr fehlen einfach die Mittel, sich in Schuld zu begeben, um das, was man als Wert begreift Realität werden zu lassen. Wir werden unzufrieden, weil wir uns ausgeschlossen fühlen und vielmehr noch ohnmächtig ohne die Mittel. Dieses Ohnmachtsgefühl ist die Achillesferse der Freiheit an sich: Die Person beginnt, sich unfrei zu fühlen und sie prangert nicht das ökonomische System an, sondern das politische.
Diese gefühlte Untrennbarkeit zwischen ökonomischer und politischer Freiheit ist die Folge des neoliberalistischen Glaubenssystems; eine weitere Ideologie, die wie alle vor ihr zum Scheitern verurteilt ist. Wir befinden uns längst in einer gesellschaftlichen und globalen Transformationsphase, die sich anschickt, Wahrheiten zu zersprengen. Vergleichbar mit der Reformation, die hundert Jahre Krieg nach sich zog, ist die Tatsache, dass heute immer noch von Wahrheit geredet und um sie gestritten wird, ein Indikator dafür, dass wir dieselben Trottel geblieben sind. Unberührt von der Aufforderung der aufklärerischen Idee reduzieren wir Denken auf rationale Anstrengung und klammern das Emotionale aus. Aber eben das bricht sich gerade die Bahn. Und mit den Argumenten der Neurowissenschaften entpuppt sich das Substantielle als ein Gefühl des Individuums, das nicht aussprechbar und nicht verhandelbar ist. Aber es ist prägend für unser Zusammenleben.