Die Salonfähigkeit der einfachen Lösungen

(Man weiß es ja alles. Man muß es eben nur mal gesagt bekommen: Das ist Polemik.)

„Es muß sich was ändern!” Von allen Seiten schallt dieser Ausruf. Was muß sich ändern? Geht es um den Krieg in der Ukraine? Geht es um die Migration? Geht es um die „Sozialschmarotzer”? Die Stimmung ist in etwa so: Der Ukrainekrieg droht Deutschland wieder zum Zentrum eines Konflikts zu machen wie vor über dreißig Jahren. Deutschland als verlängerter Arm der Großmächte. Das fügt sich in die konservativ-traditionalistische und nationalistische Vorstellung, nach welcher Deutschland sich in der Opferrolle sieht. Die Debatte zur Migration wiederum unterscheidet nicht mehr zwischen Einwanderung und Asyl. Sie ist purer, zahnloser Populismus von allen Seiten, weil die realen Probleme im Land nicht politisch gelöst werden können. Sie erfordern mapower — Polizisten, Verwaltungsbeamte, Ehrenamtliche und offene Bürger. Das ist offenbar zu viel verlangt.

Und dann gibt es die „Sozialschmarotzer”. Das sind jene, welche arbeitsunwillig jenen auf der Tasche liegen, welche leisten müssen. Das ist ärgerlich, sicher. Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen 0,02 Prozent der Bürgergeldempfänger als arbeitsunwillig. Daraufhin werden die Leistungen an 99,8 Prozent aller übrigen in Frage gestellt. Das ist die eigentliche Dummheit der Zeit: Hysterie aus kleinen Zahlen.

Alle dieser Themen greifen ineinander. Während die ideologisch verbohrte Minderheit der Ultrakonservativen Deutschland seit jeher von aller Welt bedroht sieht, zieht die „Mitte” nach. Und mit ihr die Bürger, denen solche fundamentalistisch-politischen Einstellungen um Grunde fremd sind. Für sie läßt sich alles auf eine Sache reduzieren: Die allgemeine Sorgenfreiheit. Und die gibt es nicht mehr. Der Staat wird nicht lediglich als Garant von Sicherheit gesehen, sondern darüberhinaus als Garant des Wachstums im weitesten Sinn. Denn dieses gegenwärtige Paradigma, das von allen Seiten bröckelt, offenbart sich gegenwärtig im deutschen Denken.

Deutschland war Spitzenreiter von Export und Qualität

Deutschland begreift sich als einer der globalen Spitzenreiter. Was einst aus der Wirtschaft eines Exportlandes herrührte, ist inzwischen zum Kulturgut geworden. Der Deutsche sieht sich als gebildet, als fortschrittlich, als geordnet. Er ist ein ernstzunehmender Fußballgegner und er ist zivilisiert. Wenn ein Ukrainer oder Pole mit einem iPhone in der Hand aus seinem SUV steigt, fühlt sich manch einer hingerissen auszurufen: „Jetzt kommen die schon mit den fetten Autos!” Die Polen und Ukrainer — stellvertretend für alle anderen, die aus wirtschaftlich schwächeren Regionen kommen — können einfach nicht soviel geleistet haben wie der Deutsche. Und wenn sie schon gut situiert sind, warum holen sie sich dann deutsche Sozialhilfe? Ein Scheich aus Quatar bekommt mehr Respekt als irgendein Araber. Denn ein Scheich ist tüchtig, weil er reich ist. Niemand würde das zugeben, denn Deutsche haben prinzipiell keine Vorurteile. Sie sind der Geburtsort der Aufklärung und ein Beispiel für die Affektion der Sorge.

Der Deutsche fühlt sich überlegen, weil er sich wirtschaftlich überlegen fühlt. Denn er ist tüchtig. Und die Früchte seiner Tüchtigkeit sind damit wohlverdient. Es erinnert an Max Webers „Protestantische Ethik” in Fortführung durch Calvin. Die deutsche Wirtschaft war in den letzten Jahrzehnten in globalen Spitzenplätzen. Sie ist der Gesamtindikator des eigenen calvinistischen Wertgefühls: Das Indiz, für das Jenseits auserwählt zu sein. Der Aufklärer läßt „das Jenseits” weg. Heute liegt Deutschland wirtschaftlich auf Platz 4 in der Welt,  also immer noch weit vorne. Und dennoch besteht Sorge um den Wohlstand — was immer der bedeutet.

Warum schwankt es?  Produzierendes Gewerbe

Wer sich in der vierthöchsten Etage eines Hochhauses befindet, spürt die Schwankungen am Fundament in verstärktem Maße. Die deutsche Wirtschaft ist fragil, weil sie auf globalen Produktions- und Lieferketten aufbaut, die billige Ressourcen und Güter liefert, welche zu unbilligen Konditionen erkauft werden. Deutschland ist imstande, woanders Sklaven und Billiglöhner in Dienst zu bringen. Ressourcen, welche diesen anderen Ländern für ihr eigenes Wohlergehen sorgen könnten, werden zu denen der reichsten Population auf dem Planeten. Das ist ein Achtel.  Unser Energieabdruck spiegelt diesen Wohlstand wieder: 44.000 Liter Wasser pro Kopf und Jahr. 6,5 Megawatt Strom pro Kopf pro Jahr. Und so weiter.

In anderen, ärmeren Ländern wie Somalia kommen Menschen mit sechsmal weniger Energie aus. Es scheint, als sei das gerechtfertigt und ein Mindestlohn von 0,83 Euro in Moldavien ausreichend. Weil an diesem Ort der Erde eben alles billiger ist. Dieser Zirkelschluß hat das Abwertende in sich: Nur weil man sich mit Armut irgendwie arrangiert hat, sollte man zufrieden sein. Vor allem, wenn andere für Arbeit sorgen. Vielleicht ist dem so: Jedenfalls wenn man Paul Lafargue glauben kann: „In den reichsten Ländern leben die ärmsten Menschen.”

Das ist Polemik, ohne Frage. Aber nur sie kann zwischen den Zeilen derart affektieren, dass die emotionale Gestimmtheit eines Sich-Sorgenden einigermaßen hervorkommt. 

Politische Ohnmacht

Denn die Sorgen müssen nicht begründet sein. Sie müssen nur da sein, um wirksam zu werden. Nicht anders erklärt sich der Erfolg der AfD in Sachsen und Thüringen. 

Aber versuchen wir’s mal mit einer Begründung. Die deutschen Großunternehmen BASF und VW stecken in Schwierigkeiten. BASF erwägt einen Wegzug nach China, VW stellt Massenentlassungen in Aussicht. Beide Konzerne leiden unter dem Problem des Spätkapitalismus, dessen neoliberalistisches Ideal nicht ohne Wachstum auskommt. Angenommen, die Wirtschaft ‚muß‘ 3% pro Jahr wachsen. Welche Möglichkeiten haben VW und BASF? Einmal mehr Produktabsatz. Bis „der Markt” aus allen Nähten platzt. Außerdem: Billigere Ressourcen wie Arbeitskraft und Rohstoffe. Aber wie billig geht es tatsächlich? Oder man entläßt jedes Jahr 3% der Belegschaft. Alle diese Möglichkeiten zeigen deutliche Grenzen der Wirklichkeit. Das Wachstumsparadigma nicht. Denn es ist eine Idee und Ideen sind grenzenlos. 

Die Auswirkungen sind spürbar. Der Wirklichkeits-Check ist unausweichlich, wenn man in einem Land lebt, das besonders von produzierendem Gewerbe lebt. Der Neo-Kapitalismus bewegt sich im metaphysischen Terrain des Finanzwesens und der IT-Konzerne. Wachstum geschieht nur noch dort, wo Patente und Ideen zu Produkten gemacht werden. Insofern sieht es tatsächlich nicht rosig aus für den „Wirtschaftsstandort” Deutschland, der weniger auf (clevere) Immigranten setzen will als die „Heimat”. 

Angst(mache) und Retter

Der Verfall der ökonomischen Idealvorstellungen von Wachstum und Trickle-down zieht die Politik mit sich. Die „Ampelregierung” ist Opfer einer halbwegs transparenten Politik, die wie ein Kasperletheater scheint. Sie gibt allerdings einen Einblick in die Ohnmacht der Politik, welche die eigentliche Ohnmacht des Wählers ist. Man rennt der Wirtschaft hinterher und versucht zugleich ein wenig zu reformieren. Diese Reformationsversuche fühlen sich für die meisten in der Bevölkerung wie Stiche an. Weil jene in einer gewissen Schockstarre niemanden brauchen, der sie an der Schulter zieht und mehr verlangt als „Augen zu und durch”. Die Grünen haben seit jeher die Rolle der Kassandra und tragisch ist ihre Realpolitik, die sie augenscheinlich zu Kriegstreibern macht. Wie sie es machen, es bleibt verkehrt. 

Selbst die CDU oder AfD wird nicht in der Lage sein, die deutschen Probleme zu bewältigen. Das Konservative und Nationalistische zielt auf Sorge und Angst hin und gewinnt. Ihre Lösungen aber müssen mutig, intelligent und politisch effektiv sein. Selbst wenn dem so wäre, ist ein Erfolg zweifelhaft. Denn ohne das Wachstumsparadigma fordert stagnierende Ökonomie faktischen Verzicht und Entbehrung. Die einzige Möglichkeit einer Partei welche auf Populismus hin gewählt wurde ist, diese Entbehrungen auf Ursachen zu schieben, die fadenscheinig sind. Also alles andere als die Wirklichkeit. Das beginnt bei Migration. Aber wo endet es? Die Versprechen zur Besserung der Lage werden größer und irrationaler werden müssen. Wer so Wahlen gewinnt wird so seine Politik führen: Ein immer absurder werdendes Auftragen von Versprechungen, die Opfer fordern. Im Grunde kennen die Deutschen das in West wie Ost.