Es ist erstaunlich, wie schnell die öffentliche Debatte der Abwägung zwischen Gesundheit und Wirtschaft an Fahrt gewinnt. Es gibt kaum jemanden, der nicht aus dem „Lockdown“ entlassen werden möchte und seine freiheitlichen Grundrechte verwirklicht sehen will. Was uns bleibt, ist die semi-öffentliche Debatte in kleinen Gruppen, welche sich Tag für Tag an neuen kritischen Publikationen des einen oder andern Mediums orientiert. Hier wird ein Kritiker zitiert, dort ein Regierungs-Virologe. In den Threads der sozialen Medien wird die Schlacht der Experten ausgetragen und Vergleiche zwischen nationalstaatlichen Vorgehensweisen gezogen. Kritik ist gut und wichtig, doch Lösungen, geschweige Visionen für das Danach von Covid-19 sind rar.
Paradoxerweise zeigt gerade diese Zeit, wie wichtig verläßliche Informationen durch guten Journalismus sind und daß uns nichts übrig bleibt, als dem zu vertrauen, was uns vorliegt. Es gibt berechtige Zweifel an Intentionen und Kalkülen verschiedener Medien, nicht allein wegen der Colour ihrer Herausgeber. Die Entwicklung zum Quoten-Journalismus macht Medien zu Verbreitern gerade extrem-konträrer Haltungen zum jeweiligen status quo. In den USA läßt sich das hervorragend beobachten. Dort werden gerade astroturf demonstrations veranstaltet, wo „Trump Anhänger“ laute Mobs bilden, die gegen staatliche Schutzmaßnahmen und für ihre Freiheit demonstrieren. Das alles instrumentialisiert von der Tea Party, dem ultra-konservativen Ein-Prozent der Gesellschaft. (Zum Hintergund)
So bleibt dem kritischen Informationskonsumenten in letzter Instanz nur der Rückgriff auf Zahlen. Das liegt in seiner Erziehung. Der homo oeconomicus ist zusammen mit der Wissenschaft objektiviert und zu Fehlerintoleranz optimiert worden. In der Konsequenz bleibt nur noch die wissenschaftlich-mathematische Methode more geometrico, mit der wir Statistiken aufrechnen; Tote gegen mögliche Tote, Abstraktion durch Verwissenschaftlichung.
Das führt zu nichts, außer zur Polarisierung von Gläubigen. Wie wäre es beispielsweise mit kommunalem zivilen Ungehorsam? Wir erweitern unsere bubble von Familie zu Nachbarn, von Nachbarn zu Kommunen und trauen uns selbst zu, über die gegenwärtige Lage zu urteilen. Ohne was-wäre-wenn Statistik, sondern mit common sense. Womöglich entwickelt sich ein Gefühl der Schicksalsgemeinschaft, die Erkenntnis des Zusammen-Ins-Leben-Geworfen sein, wenn man es existentialistisch ausdrücken wollte. Während das Virus nur im nahem Kontakt übertragbar ist, ist die Kommune zugleich Bedingung der Möglichkeit und Risikobereich. Gerade hier kann und sollte sich Zwischenmenschlichkeit entwickeln und der Gedanke des (verantwortlichen) Miteinanders.
Die alternativen Gesellschafts- und Wissenschaftstheorien haben in der Kommune ihre Wurzeln, wo es um konkrete Lebensbewältigung geht. Das Jonglieren inter- und nationaler Statistiken führt zu Abstraktion und Objektivierung, weshalb vielen Vertretern dieser alternativen Visionen zum postmodernen Wachstumsgesellschaft derzeit nur Ratlosigkeit bleibt. Wollen wir raus aus der „Krise“ und zurück zur „Normalität“? Das scheint wie vom Regen in die Traufe.
Wenn es um sozialromantische Ansätze geht, gibt es nur die Möglichkeit der Revolution von unten, um ihre Möglichkeit zu prüfen. Das ist keine Anarchie, wie Berater der Bundesregierung fürchten, sondern ein Experiment zwischenmenschlichem Muts und mündiger Besonnenheit. Wenn die Autarkie und Selbstbestimmung (Art.28 I Grundgesetz) der Kommunen gestärkt werden kann, dann nur durch seine Bürger. Plakativer kann man sagen, daß es an der Zeit ist, sich in der eigenen Gemeinde zu aktivieren, aufzuräumen, sich zu unterstützen, zu anderen Gemeinden in gesunden Austausch und Wettbewerb zu treten – mit aller Vorsicht – statt sich auf bundesweit verordnete Ausgangssperren von allen Mitmenschen zu distanzieren.