Alf Dubs, Sohn eines tschechischen Juden, war ein Kind, als er von einem britischen Aktienhändler aus den Fängen der Nationalsozialisten gerettet wurde. Alf’s Vater war aus Prag nach London geflüchtet und der sechsjährige Alf folgte ihm alleine. Jahre später war aus demselben Alf Dubs ein Mitglied des britischen Parlaments geworden. Im Zuge der Flüchtlingssituation brachte Lord Dubs den Vorschlag für eine Anpassung des Einwanderungsrechts ein, um auf sich allein gestellten Flüchtlingskindern Asyl und Schutz zu gewähren. London ließ daraufhin verlauteten, daß man 3000 dieser Flüchtlingskinder bis 2020 aufnehmen werde.
Die Zahl von 3000 Flüchtlingen ist alles andere als eine generöse Offerte. An die 4000 Menschen sind bisher im Mittelmeer ertrunken, 3 Millionen haben es nach Europa geschafft.
Das britische Unterhaus konterte nun mit knapper Mehrheit und verhinderte damit die Aufnahme der Hilfsbedürftigen. Die Begründung: Man wolle verhindern, daß „Eltern ermutigt werden, ihre Kinder allein auf den Weg nach Europa zu schicken und den Risiken der Reise auszusetzen“, ließ die Regierung Ihrer Majestät wissen. Zwar konterte das “House of Lords” wiederum, sodaß der Plan weiterhin aufrecht erhalten wird. Und dennoch: Die Diskussion darüber, ob wir helfen oder nicht, ist beschämend.
Man kann die Europäer verstehen, ganz vorne die Deutschen, von denen ich einer bin – zumindest vom Paß her. Zugleich bin ich im Osten der Republik geboren, in einer anderen Zeit, wo Imperialismus Feindbild und ein Art der Hitlerjugend unter anderem Namen verpflichtete. Ich weiß, wie man sich von anderen abgrenzt und zugleich ist mir bewußt, daß die eigene Seite immer die bessere, die richtige, die gerechte ist. Zumindest, solange man mit und in diesem Wertesystem leben kann.
Was hat Christlichkeit mit Demokratie zu tun?
Spätestens seit dem 11. September 2001, einem Ereignis, an welchem alle Welt teilhaben mußte – ob gewollt oder nicht, ist dieses „mit uns oder gegen uns“ Mantra wieder deutlich geworden. Und mit dem Ende des Sozialismus ist auch das nicht verschwunden. Das generell vermittelte Menschenbild war zu allen Zeiten verzerrt. Wie man zu sein hat, wurde mir als Kind und Jugendlichen oktroyiert. Nach dem Mauerfall war der Preis der vermeintliche Freiheit, frei denken und sich frei äußern zu können, bald ökonomischer Druck. Die Ideologie ist heute gleichgültig – aber eben nur solange man mit ihr keine Politik machen kann. Als Moslem hat man es heute nicht leicht auf der Welt.
Erstaunlich nur, daß das Gefühl des Patriotismus etwas Erhabenes hat, wo nichts Erhabenes ist. Patrioten sind Nesthäkchen; Verteidiger desselben, weltverschlossen und ohne Erkenntnis, daß ihre kleine Welt nicht ohne weiteres abgrenzbar ist. Territorium und Religion zum Beispiel sind in einer säkularen Welt keine notwendige Einheit.
Für die Deutschen, vor allem jene im Osten, wo die Majorität mit Religion nichts am Hut hat, rückt inzwischen das Christentum in eine fragwürdige Nähe: Man verteidigt das Abendland und erinnert an christliche Werte. Bei der Anwendung hapert es; von Nächstenliebe war kurz nach Beginn der Flüchtlingsbewegung nichts mehr zu hören. Lediglich von christlichen und demokratischen und freiheitlichen „Werten“. Was sollen das für Werte sein? Was hat Christlichkeit mit Demokratie zu tun?
Stellen Sie sich vor, sie sind Einwohner einer kleinen Gemeinde in Deutschland. Sie arbeiten 8 oder 10 oder 12 Stunden täglich für ein Auskommen. Seit den späten 1990er Jahren ist Ihr Einkommen nicht mehr gestiegen. Die Lebenshaltungskosten dagegen schon. Ob Ihnen Ihre Arbeit gefällt oder nicht – sie wissen, die Alternativen an anderer Arbeit sind gering. Das, was Sie sich hart erarbeitet haben, muß weiter bezahlt werden. Sie können nicht einfach die Zelte abbrechen und in Spanien an der Costa blanca leben. Es heißt nine-to-five, Miete oder Hypothek. Sie leben wie ein Uhrwerk. Spüren Sie Streß? Oder hilft Ihnen das Argument, Ihr Lebensstandard sei vergleichsweise hoch, zu entspannen?
Was über die vergangenen Jahre, spätestens seit der Regierung Schröder, passiert ist, nennt man „mehr Selbstverantwortung“. Die FDP wurde für das Anhängen an dieser Aussage vor kurzer Zeit abgestraft. Das hat die Agenda 2010, welche vier- bis sieben Millionen Deutsche in eine prekäre Lage (m.a.W Armut) gestürzt hat, nicht rückgängig gemacht. Das war die SPD, aus Vorarbeit der Christdemokraten, welche die Tradition des freien Marktes bis heute fortführen. Trauen Sie diesen Politiker noch?
Die Arbeitslosen sind jedoch nicht der Kern des Problems. Falls Sie noch Arbeit haben, dann sind genau Sie es. Die Arbeitenden bekommen zwar nicht die Herabwürdigung der Ämter zu spüren, wie Hartz IV Empfänger, dagegen finden jene sich in einer Welt der Ellenbogen. Kann man sich in einer solchen Welt glücklich fühlen? Hat der Joga-Kurs, der Selbstfindungstrip, der Sabbatical irgendetwas bewirkt, was nicht nach zwei Wochen im alten Trott wieder verflogen war? So gesehen: Glorifizieren Sie vielleicht und haben ein klein wenig Sehnsucht nach Arbeitslosigkeit und entspannter Arbeit im Garten; Sehnsucht nach dem „einfachen“ Leben?
Wenn Sie arbeiten, fühlen Sie sich beschissen, im doppeldeutigen Sinne. Sie lesen von Steuersündern, von wachsenden Ungleichheit, von lächerlichen Strafen für Erstgenannte… Wobei Sie wissen, daß Sie es sich nicht leisten könnten, in legaler Hinsicht “auszurutschen” — die Gefahr einer Strafe, vom Bußgeld angefangen, wäre zu einschneidend. Also beißen Sie die Zähne zusammen und illusionieren sich weiter.
Wir denken opportun, nicht mehr sozial.
Der freie Wettbewerb, welchen die neoliberale Lobby seit den 80ern von den Kanzeln des Marketings predigt, existiert. Er existiert inzwischen fast überall: Bei jedem mittelständischen Unternehmen, an jedem einzelnen Arbeitsplatz, an jeder Ecke. Nicht nur bei Unternehmen, sondern im Privatleben ist er angekommen. Wir denken opportun, nicht mehr sozial. Deswegen haben wir ein Problem damit, wenn unsere Bibliotheken, Theater und Schwimmbäder geschlossen werden. Deswegen haben wir auch ein Problem damit, wenn Flüchtlinge nun auch noch Turnhallen okkupieren. Das europäische Problem wird direkt in unseren Kommunen ausgetragen.
Das Irrsinnige dabei: Es gibt kein Flüchtlingsproblem. Schon gar keine Krise. Nur 0,3 Prozent der europäischen Bevölkerung sind Flüchtlinge. Die Krise liegt in einem System, daß sich mit allen Mitteln wehrt, unterzugehen, sich einzugestehen, daß es nicht mehr funktioniert. Die Konzerne sind faktisch wettbewerbsfrei; diese Unternehmen sind so groß, daß sie sich den Weltmarkt aufteilen, wie Straßengangs ihre Reviere. Die Kämpfe werden in Ländern wie Syrien oder dem Irak ausgetragen.
Flüchtlinge sind die Ärmsten der Armen, auf deren Rücken dieser Kampf um den status quo ausgetragen wird. Das ist schändlich und wer immer hier von „Werten“ redet, verdient es nicht, gehört zu werden. Das am häufigsten von Westen gebrauchte Substitut heißt „Demokratie“.
Aber das ist eine andere Geschichte.