Ist ein Befreiungskrieg nicht immer ein Krieg dessen, der sich unfrei fühlt? Wäre danach die Verteidigung der Freiheit nicht schon Aufgabe des Verhandelns bei sich anbahnenden Konflikten? Wäre danach der sich Befreiende „schuldig“ am Beginn seiner Gewalthandlungen (seines Befreiungskrieges), nicht früh genug mit den Verhandlungen begonnen zu haben? Zum Verhandeln gehört allerdings die Ebenbürtigkeit der Vertragspartner. Diese Parität setzt bei allen Individuen und Gesellschaften voraus, gleiche Stärke zu besitzen. Worin diese Stärke besteht, bestimmt der Zeitgeist. Ist Stärke auf Überlegenheit im Angriff ausgelegt, rüstet man auf. Besteht sie beispielsweise in der Idee des Tao, wonach der Baum sich biegt, um nicht zu brechen, liegt sie in der Fähigkeit, die Welt vertrauensvoll zu betrachten.
Wer aufrüstet, tanzt auf die Klippe zu, welche Michael Kinsley in Anlehnung an seinen Mentor Thomas Schelling ins Bild setzt. Zwei Individuen sind am Fuß mit einer Kette verbunden und stehen an einer Klippe. Die Aufgabe ist es, den Anderen zum Nachgeben zu bewegen. Eine Lösung wäre, auf den Abgrund hin zu tanzen, um dem Anderen zu zeigen, dass man das Risiko des eigenen Todes eher in Kauf nimmt als den Verlust des Gewinns. Die Angst würde dann zur Aufgabe des Anderen führen. Diese Strategie hatte sich vierzig Jahre des 20. Jahrhunderts dahin zugespitzt, dass die halbe Welt auf diese Klippe hin tanzte, während sie von der anderen Hälfte überholt wurde. In der Konsequenz war Angst auf beiden Seiten der einzige, traurige Stabilisator.
Wer vertraut, erzeugt ein zunächst fragiles Klima der Ausgeglichenheit. Vertrauen entspricht den Staats- und Gesellschaftstheorien seit Rousseau und viele Staaten sind auf den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages aufgebaut. Der Einzelne vertraut auf die Einhaltung der gemeinsamen Regeln durch die Anderen. Mit der Unterwerfung unter die gemeinsam ausgehandelten Regeln begibt man sich notwendig seiner absoluten Freiheit.
Der Umstand, dass „Freiheit“ in liberalen Gesellschaften als Substitut für jenes Vertrauen verwendet wird, ist ein Ausdruck ewiger Angst, deren Befreiung ein aktionistisches Motiv wird. Man wird zum Wind, der Bäume verbiegt oder zum Brechen bringt. Freiheit ist im Gegensatz zu Vertrauen aktionistisch, also durchsetzbar. Ihre Möglichkeit zur Durchsetzung wird zur Möglichkeit von Selbstbestimmung, deren Ausübung aktives Mittel zur Angstbefreiung wird. Das Stammwort bleibt Befreiung. Vertrauen ist das scheinbar passive Pendant dazu. Der Mensch muss Wege finden, sich seiner Angst, die er nicht in Kontrolle oder Zerstörung des Anderen ersticken kann, zu entledigen. Es erfordert größeres Selbstbewusstsein als der Kampf um Freiheit. Diese Aufgabe scheint für das Individuum oft zu groß, denn sie gibt keine Rückversicherung von Außen, dass die Zukunft weiterhin lebenswert bleibt. Wer von „dem Anderen“ nichts weiß, der bleibt ihm entfremdet. Fremde Urteile über das Andere werden zu eigenen gemacht, denn sie sind Ankerpunkt für grundlegende Perspektive im Umgang mit dem Anderen. Die Offenheit des Fremden ist maßgeblich für alles Weitere. Das Fremde befindet sich auf beiden Seiten. Wenn nur eine Seite ihr Eigentliches, ihre Motive und Weltsicht offenlegt, wird sich die andere Seite dessen bedienen. Wer sich das Fremde zueigen machen kann, dem wird das Fremde das Seine. Was vormals fremd war, geht nun im eigenen Selbst-Vertrauen auf.
Die materialistische Ansicht wählt dagegen den Weg der Strategie. Sie verbündet oder entzweit sich mit dem Anderen wie es ihrem Kalkül dienlich ist. Jene Strategien sind aktionistische; ihr Ziel ist im Grund die Erschließung und das Horten von Ressourcen für effektive Angstbefreiung. Das Materielle degradiert das Individuum zu etwas, dass lediglich frisst, scheißt und kopuliert. In materialistischer Rechtfertigung der Gewalt spielt der Gedanke von Freiheitsverteidigung eine gewichtige Rolle. Die Eudämonie, das glückliche Leben, wird reduziert auf die Abwehr und Beseitigung dessen, welches Glück unmöglich macht. Der Sieg wird das ultimative eudämonische Hochgefühl der Freiheit. Allein die Schritte des Prozesses dorthin, also Schlacht um Schlacht, sind stetige Rückversicherer des Wahrheitsversprechens jener Strategie. Das ermöglicht es, den Krieg aufrecht zu erhalten, um seine stabilisierende Wirkung im Inneren, des Staates und des Gemütszustands, zu ernten. Als Resultat findet sich der Mensch in immerwährender Sorge, die er ständig aktiv bekämpfen muss. Die Möglichkeit, jene Sorge bekämpfen zu können, ist Ursache, dass er am Kampf teilnimmt. Das Versprechen von Freiheit und ihr Abstreiten im Hier und Jetzt eröffnen Gewaltbereitschaft. Die Bereitstellung von Lösungen zur Ermöglichung der Freiheit ist Propaganda und Indoktrination. Es ist als setzte man sich freiwillig in den Kerker, um aus den Ausbruchsversuchen Lebensmut zu schöpfen.
Der Gesellschaftsvertrag ist kein Konstrukt der Freiheitsverteidigung, im Gegenteil. Auf seiner Grundlage werden Freiheitsräume zum Zweck des Zusammenlebens eingeschränkt. Das Ergebnis ist Vertrauen in Stabilität und daraus Möglichkeiten neuer Freiheitsverwirklichung. Diese realisierten neuen Freiheiten werden zu Werten erhoben, deren Verteidigung mit Freiheitsverteidigung gleichgesetzt wird. Solche Strömungen sind zutiefst konservativ; sie verteidigen die Früchte ihrer Gewinne aus dem Gesellschaftsvertrag gegen andere, inklusive ihrer Mitbürger.
Freiheit hat man. Menschenrechte und das deutsche Grundgesetz sind Versuche, negative Freiheitsrechte zu deklamieren. Menschenrechte und Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Eingriffe durch den Staat. Die liberal-demokratische Freiheit ist die, Verträge untereinander in eigener Verantwortung auszuhandeln. Wer diese Verhandlungen vermeiden will, stellt sich gegen die Freiheit als solche.